Aktuelles: Kolumnen zur politischen Bildung
Wir haben es uns gut eingerichtet in unserer Bundesrepublik Deutschland – jedenfalls die meisten von uns. Wir haben uns gewöhnt an Frieden, Freiheit, Sicherheit, an ausreichende Versorgung, an sozialen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt.
Darüber sind wir bequem geworden, Drohnen der Demokratie sozusagen, satte Meckerer, die von ihrem Ruhelager aus zetern, wie schlimm alles geworden sei, nur wenn uns zugemutet wird, dass wir unsere Kissen mal selbst aufschütteln müssen.
Dann kommen die populistischen Schwätzer verschiedener Couleur und flüstern uns ein, wie viel besser es uns gehen könnte, wenn wir nur den Blick ins Vorgestern richteten und denen unsere Stimme gäben, die uns stramme Führung, nationale Abschottung, rigorose Verwirklichung der eigenen Gruppeninteressen versprechen.
Wenn wir ihnen aus Bequemlichkeit oder Unwissenheit nachgeben und sie machen lassen, dann wird sich bald die hässliche Fratze des Faschismus, des Stalinismus oder des libertären Autoritarismus zeigen – aber dann ist es zu spät zur Umkehr.
Was können wir dem entgegensetzen? Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass der demokratische Rechtsstaat, in dem wir es uns so schön bequem eingerichtet haben, Zinsen einfordert für das Leben, das er uns bietet, Zinsen mindestens in Form von Engagement und wachem politischem Bewusstsein.
Dafür ist die Schule ein wichtiger, vielleicht der wichtigste Ort. Und dennoch ist diese Einforderung dort lange zu kurz gekommen, ist der politische Unterricht routiniert und fad gewesen, abgefragter Wissenserwerb, bestenfalls, aber kein Ansporn, keine Einladung zum Engagement.
Dass sich das ändern muss, haben inzwischen auch die Länderregierungen, zuständig für den Unterricht, begriffen und sind bereit, wenigstens ein bisschen was zu tun für eine Art „Verfassungspatriotismus“, also einen gewissen Respekt vor dem, was diese demokratische Staatsverfassung für unseren Alltag leistet, und eine gewisse Bereitschaft, für den Erhalt eben dieser Verfassung einzutreten – auch und gerade in Krisenzeiten. Ein winziger, aber immerhin richtiger Schritt in diese Richtung ist etwa die wöchentliche „Verfassungsviertelstunde“, die seit neuestem den bayerischen Schüler/innen zur Verfügung steht.
Auch wenn sich das sehr karg anhört, lässt sich doch vielleicht etwas daraus machen.
So hat sich Eselsohr, traditionsreiche Fachzeitschrift für Kinder- und Jugendmedien, mit ihrer rührigen Herausgeberin Christine Paxmann, die sich Demokratieerziehung schon lange auf ihre Fahnen geschrieben hat, entschlossen, alle zwei Monate Platz zur Verfügung zu stellen für eine Kolumne mit Anregungen zum Verfassungsunterricht im weitesten Sinn, also ohne das Kleben an Vertaktung, Lehrplänen und Verwaltungsvorschriften.
Die Texte finden sich hier. Mögen sie etwas nützen!
Zauderer, made in Germany
Kennen Sie Quintus Fabius Maximus Verrucosus Cunctator?
Wahrscheinlich nicht, zählt er doch nicht zu den berühmten Römern, obwohl er der ehrwürdigen Patrizierfamilie der Fabier entstammte. Auch sein Beiname ‚Verrucosus‘ hat ihm nicht zu größerem Ruhm verholfen, der ‚Warzige‘, Warzen sind nun einmal nichts, was einem den Eintrag in die Geschichtsbücher sichert. Nur sein zweiter Beiname, ‚Cunctator‘, der Zauderer, hat ihm eine gewisse Bekanntheit verschafft.
Wer war dieser Quintus Fabius Cunctator? Im zweiten Punischen Krieg kämpfte er als gewählter Diktator Roms gegen die Karthager unter ihrem Feldherrn Hannibal.
Das heißt, er kämpfte eben nicht, sondern – zauderte. Überlegte, wich aus, dachte nach, verschob. So lange, bis die Römer die Geduld mit ihm verloren und neue Heerführer wählten, die dann von den während der langen Zögerei immer stärker gewordenen Karthagern in eine große Schlacht gezwungen wurden, in die Schlacht bei Cannae: Die wurde zur größten militärischen Katastrophe, die Rom bis dahin erlebt hatte.
Warum ich Ihnen das erzähle? Nun, weil wir das so gut können in Deutschland, zögern und zaudern und damit eine Katastrophe riskieren. Sicher ist es vernünftig, angesichts einer drohenden Gefahr erst mal nachzudenken und Fakten zu sammeln, ehe man einen Entschluss fasst. Aber wenn man sie dann hat, die Fakten: rechtsextreme Gesinnung, laufende Verfahren, Spionageverdacht, Millionenspenden aus zweifelhaften Quellen, haufenweise Pöbeleien in den Parlamenten, ebenso erratische wie erschreckende Fremdenfeindlichkeit, zahlreiche Verbindungen zu Neonazis – wenn man das alles hat, warum dann niemand endlich den Versuch macht, diese rechtsextreme Partei AfD, um das Kind beim Namen zu nennen, durch das Bundesverfassungsgericht (Foto) verbieten zu lassen, diesem Spuk ein Ende zu machen, bevor er in der Katastrophe mündet, dann ist mir das unverständlich.
Da wird gebetsmühlenartig betont, man müsse diese Partei „politisch bekämpfen“ – was ist dabei bisher herausgekommen? Da wird endlos vom „wehrhaften Rechtsstaat“ gefaselt, der „die Zähne zeigen“ müsse – aber nur nicht jetzt, nicht heute und morgen auch nicht – es könnte ja auch schiefgehen. Natürlich kann ein Verbotsverfahren auch danebengehen – aber lohnt unser vielbeschworener demokratischer Rechtsstaat nicht, dass man für ihn auch etwas riskiert? Geht man erst gar nicht zum Zahnarzt, weil der den Zahn am Ende vielleicht nicht zieht, der einen so schmerzt? Warum leitet eines unserer Verfassungsorgane – Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung – nicht endlich ein Verbotsverfahren ein? Aus Feigheit? Weil niemand die Verantwortung für ein Scheitern übernehmen will? Wollen wir wirklich warten, bis die falschen Versprechungen dieser Partei, ihre Fake News, ihre Lügen und Social Media-Kampagnen für politikverdrossene, in ihren Bubbles an der Nase herumgeführten Wählerinnen und Wähler sie so gestärkt haben, dass man sie nicht mehr verbieten kann, weil sie zu groß geworden ist und selbst an den Schalthebeln der Macht sitzt? Uns Stück für Stück nimmt, was bald 80 Jahre Demokratie errungen haben? Haben wir unser „Cannae“, 12 Jahre unmenschliche Diktatur, mit all ihren entsetzlichen Folgen, schon vergessen?
Ein spannendes Thema auch für die „Verfassungsviertelstunde“: Sollte man den Versuch unternehmen, die AfD wegen ihrer Verfassungsfeindlichkeit verbieten zu lassen oder nicht? Nach entsprechenden Recherchen könnten alle Argumente erörtert und anschließend abgestimmt werden – ich glaube nicht, dass allzu viele der Schülerinnen und Schüler zu solchen Zauderern gehören würden, wie unsere Politiker es sind.
Endlich Schluss mit der Zauderei, das würde ich mir von den politischen Entscheidungsträgern wünschen: Sorgsam abwägen ist gut. Auch ein kühler Kopf ist prima. Wenn aber darüber das Gehirn einfriert, dann hat man es wohl übertrieben.
Das musste auch Quintus Fabius Cunctator erfahren.
Eine Sache des Terminkalenders
In letzter Zeit habe ich mich viel mit Erich Kästner (Foto) beschäftigt. Habe ihn begleitet durch die Jahre des „Dritten Reichs“ bis zum bitteren Ende. Warum? Weil ich ihn mag, ihn und seine sarkastischen, eindringlichen und lebensweisen Gedichte im Stil der „neuen Sachlichkeit“. Kästner war kein Held, obwohl er, anders als viele seiner Kolleg/innen, nicht vor den Nazis die Flucht ergriff, sondern im Lande blieb. Er ging nicht in den aktiven Widerstand, sondern sah mit einer Mischung aus Verachtung und Ironie dabei zu, wie von fanatisierten NS-Student/innen, die vermutlich außer Karl May und dem Struwelpeter noch nicht allzu viel Literatur konsumiert, aber doch schon den ganz großen Überblick über alles „Undeutsche“ hatten, seine Bücher verbrannten. Nein, er war kein Held, nur einer, der in einem Terrorstaat zu überleben versuchte.
Und auch das macht ihn so nahbar und glaubwürdig, denn wer von uns kann schon sagen, dass er ein Held gewesen wäre.
Aber ein scharfsinniger Beobachter und Analyst, das war und blieb er. Die Schrecken des NS-Staatsterrorismus resümierte er nach dem Ende des „Dritten Reichs“ folgendermaßen:
„Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben. Es ist eine Angelegenheit des Terminkalenders, nicht des Heroismus.“
Wie Recht er doch hatte, und wie sehr wir doch dabei sind, die drohenden Anzeichen wieder hinzunehmen, anstatt sie zu bekämpfen! Freilich lassen sich die zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nicht mit der Gegenwart vergleichen, das heißt aber nicht, dass die Bedrohungen geringer wären als damals – im Gegenteil. Nie war es so leicht, Lügen zu verbreiten, Existenzen zu vernichten und Menschen zu manipulieren wie heute. Die technischen Möglichkeiten dazu haben sich extrem erweitert und verbessert – Joseph Goebbels würde jubeln, wüsste er, wie leicht es seine Gesinnungsgenossen heute haben.
Und unsere Politiker/innen der „demokratischen Mitte“, die das stabile Fundament unserer Demokratie bilden sollen? Da gibt es welche, die alle Welt in Opfer und Täter aufteilen und die Gesellschaft damit nur noch mehr spalten. Welche, die sich selbst rechts außen überholen und dabei ihre eigenen Werte über den Haufen werfen. Welche, die hemmungslos ihre eigene Klientel bedienen, ganz gleich, wem sie damit schaden. Welche, die ihr Outfit, ihr Junkfood, ihre scheinbare Nahbarkeit stilisieren, weil sie Politik vor allem für ihr Selbstwertgefühl betreiben. Mischformen nicht ausgeschlossen…
So kann man drohende Diktaturen nicht bekämpfen, und Kästner hätte das so bissig kommentiert, wie er es schon in den 1920ern und 30ern getan hat.
Um die Gefahren einer kommenden Diktatur zu bannen, brauchen wir Politiker/innen, die endlich entscheiden und nicht herumdrucksen, verschieben und verzögern. Die nicht tricksen und verklausulieren, sondern sagen, was Sache ist. Die endlich die notwendigen Reformen angehen und auch Verantwortung zu übernehmen bereit sind. Die erklären, was sie tun, warum sie es tun, und welche Risiken und Opfer damit verbunden sein können. Die den Extremisten den Wind aus den Segeln nehmen, statt ihnen ständig die offene Flanke zu zeigen.
Politikerinnen und Politiker, die endlich kapieren, dass Investitionen in Bildung wichtiger sind als die Subvention von Dieselkraftstoff, weil Investitionen in Bildung Investitionen in die Zukunft sind. Dass man dafür die Jugend überzeugen, sie für sich gewinnen und sie teilhaben lassen muss, unter anderem durch eine exzellente politische Bildung.
Wir brauchen Politikerinnen und Politiker, die begriffen haben, dass dafür noch mehr nötig ist als nur eine „Verfassungsviertelstunde“, weil nämlich eine drohende Diktatur zu bekämpfen eine Sache des Terminkalenders ist.
Sagte Erich Kästner, und der wusste, wovon er sprach..
Also, auf geht’s! Es könnte sonst schnell zu spät sein.
Machtergreifung - saugeil?
Bild: Das Holocaust Mahnmal in Berlin
Freitag, früher Nachmittag, München, U4, zwischen Odeonsplatz und Karlsplatz. Ein paar Teenies hocken zusammen, ausschließlich Jungen, 15, 16 Jahre alt, Schüler oder Azubis im ersten Lehrjahr. Sie diskutieren halblaut über Geschichte, die NS-Zeit ist das Thema. Ein Satz bleibt hängen: „Mit der Machtergreifung haben die das Ding gedreht, saugeil, sag ich euch!“
Machtergreifung: Am 30. Januar 1933 wird der Führer der NSDAP, Adolf Hitler, vom altersschwachen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt und beauftragt, Neuwahlen für den 5. März vorzubereiten. Am 4. Februar 1933 legt die neue Reichsregierung Hindenburg die „Verordnung zum Schutz des deutschen Volkes“ vor, die der Alte sofort anstandslos unterzeichnet. Ab sofort kann der Innenminister jede politische Versammlung, ganze Zeitungen ohne Einspruchsmöglichkeit verbieten – und das kurz vor der Neuwahl. Versammlungs- und Pressefreiheit sind damit beseitigt.
Saugeil?
Machtergreifung: Am 28. Februar legt die neue Reichsregierung dem Reichspräsidenten die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vor, die dieser wieder ohne zu zögern unterschreibt. Der Staat kann ab sofort mit seinen Bürgerinnen und Bürgern machen, was er will. In der Folge werden bis Mitte März zigtausende Menschen verhaftet, in Gefängnisse und Lager gesteckt. Meist bleibt ihr Aufenthaltsort unbekannt, niemand darf sie besuchen. Es gibt keine Verdachtspflicht, keine Einspruchsmöglichkeit, keine Anwälte. Die Haftdauer ist nicht befristet. Viele Gegner der Nationalsozialisten verschwinden. Die Grundrechte der Verfassung sind damit erledigt.
Saugeil?
Machtergreifung: Die Wahl am 5. März haben die Nationalsozialisten mit ihrem Koalitionspartner, der Deutschnationalen Volkspartei, knapp gewonnen. Am 23. März legt die neue Reichsregierung dem Reichstag das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ zur Abstimmung vor. Dieses „Ermächtigungsgesetz“ überträgt die gesamte Gesetzgebungskompetenz an die Regierung, die für all ihre Gesetze und Verordnungen keinerlei parlamentarische Zustimmung mehr benötigt. Mit Drohungen, Betrug und brutaler Gewalt verschaffen sich die Nationalsozialisten die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit. Nur die SPD stimmt dagegen. Die Gewaltenteilung ist damit beendet und das Parlament entmachtet.
Saugeil?
Machtergreifung: Am 30. Januar 1934 beseitigt die neue Reichsregierung alle Rechte der Länder, die von nun an in allen Bereichen der Zentralgewalt unterstellt sind. Im Lauf des Jahres müssen sich alle Institutionen, Verbände, Organisationen, Vereine, Presse, Funk, Film, der nationalsozialistischen Kontrolle unterwerfen. Die, die sich widersetzen, werden verboten oder lösen sich selbst auf. Die Gesellschaft, der ganze Staat, ist damit gleichgeschaltet, die Demokratie ist am Ende.
Saugeil?
Machtergreifung: Am 2. August 1934 stirbt der alte Hindenburg. Hitler nennt sich von nun an Führer und Reichskanzler. Am 19. August lässt er sich vom deutschen Volk bestätigen, dass er alleiniges Staatsoberhaupt ist. Seine Gleichschaltungsmaßnahmen waren erfolgreich: Die Zustimmung betrug 89,9 Prozent, die Wahlbeteiligung 97,7 Prozent. Hitler ist jetzt unumschränkter Diktator, die Machtergreifung ist vollzogen.
Saugeil?
Die nationalsozialistische Diktatur dauert 12 Jahre. In dieser Zeit werden 12 Millionen Menschen, darunter 6 Millionen Jüdinnen und Juden, ermordet oder zu Tode geschunden. Der Krieg, den die Nationalsozialisten anzetteln, kostet weitere 60 Millionen Menschen, Soldaten und Zivilisten, das Leben. Am Ende bleiben von Deutschland ein zerstörtes Land und ein mit Schuld beladenes Volk.
Saugeil?
"Die Machtergreifung und was sie wirklich bedeutet - das wäre ein wichtiges Thema für die 'Verfassungsviertelstunde'"
Mehr März wagen!
Während ich diesen Text schreibe, geht draußen der März mit viel Sonne und Wärme zu Ende.
Bei dem Wort „März“ – denkt da nicht jeder (zumindest, wenn es mit ‚ä‘ geschrieben ist) an Aufbruch, an Wachstum und Fortschritt? In der Natur ist der März der Monat, in dem der Stillstand des Winters der Dynamik des Frühlings weicht, der Monat des Erwachens, der Entwicklung, der positiven Veränderung.
Auch historisch-politisch war der März einmal eine turbulente Zeit des Aufbruchs. Eine Zeit, in der die Deutschen zum ersten Mal Demokratie wagten. Aber das wissen die wenigsten, es ist ja auch schon eine ganze Weile her. Im März 1848 gingen überall in den Staaten des Deutschen Bundes (denn einen deutschen Gesamtstaat gab es noch nicht) zahllose Menschen, Bauern, Arbeiter, Studenten, Handwerker, Kleinkaufleute, auf die Barrikaden, um sich gegen Herrscherwillkür und Ausbeutung zu wehren und sich für ein geeintes Deutschland mit bürgerlichen Freiheitsrechten einzusetzen.
Tatsächlich gaben viele Fürsten im ersten Schrecken über den Zorn ihrer Untertanen den Forderungen nach – gesamtdeutsche Wahlen wurden abgehalten, und das erste Parlament entstand. Es umfasste um die 600 Abgeordnete und tagte ab Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche (Foto). In vielen Sitzungen wurde über ein vereintes Deutschland und eine mögliche neue Staatsform diskutiert.
Leider scheiterten die Bemühungen um ein vereintes und demokratischeres Deutschland schon nach etlichen Monaten, und die alten ungerechten Machtverhältnisse wurden wiederhergestellt.
Warum? Die Fürsten besannen sich auf ihre militärische Macht und ließen die freiheitlichen Bestrebungen in ihren Ländern gewaltsam unterdrücken. Vor allem aber: Die neugewählten Volksvertreter konnten sich nicht einigen: Die einen, gemäßigte Liberale, wollten eine Monarchie beibehalten, die anderen, radikale Demokraten, eine Republik einführen. Letztlich scheiterten die Kräfte der Erneuerung an ihrer eigenen Zerrissenheit, an ihrer Unentschlossenheit, an ihrer mangelnden Bereitschaft zum demokratischen Prozess. Im entscheidenden Moment wagten sie nicht genug „März“, nicht genug Demokratie. So konnten die alten Mächte schnell wieder die Oberhand gewinnen.
Auch 177 Jahre nach diesen ersten demokratischen Versuchen fehlt es uns häufig an der Bereitschaft zum demokratischen Prozess: Gerade in schwierigen Zeiten muss man sie aber ständig trainieren, wenn man sie nicht verlieren und sich damit der Gefahr autoritärer Machtstrukturen aussetzen will. Deshalb sollten wir – und dazu gibt uns die neue „Verfassungsviertelstunde“ eine Chance – auch an den Schulen „mehr März“ wagen, mehr demokratische Prozesse in Gang setzen – ohne Denkverbote, unter Beteiligung aller und mit der Bereitschaft, das Ergebnis des Prozesses zu akzeptieren. Ein Beispiel dafür? Sehr gern.
Seit vielen Jahren wird immer wieder darüber diskutiert, ob man Stegreifaufgaben ankündigen soll oder nicht. Bisher wurde das „von oben“ entschieden, vom Ministerium, von den Schulleitungen, vielleicht von der einzelnen Lehrerin oder dem Lehrer. Ich würde das in allen Klassen, mit allen Schüler/innen und allen Lehrkräften fair und regelgerecht debattieren: mit wohlüberlegten Pro- und Contra-Argumenten, mit der Erörterung möglicher Kompromisse und anschließender Abstimmung. Die Ergebnisse sollten dem Schulforum übermittelt, dort ausgewertet, in die entsprechende Form gegossen und als verbindlich festgelegt werden.
Das wäre nicht nur gerecht, sondern auch eine schöne Übung in Sachen Demokratie. Und es ist weder schwer noch riskant: Bei uns gibt es keine Fürsten, die uns mit ihren Truppen niederkartätschen. Wir können also ruhig mehr Demokratie wagen. Auch in der Schule – und nicht nur im März.
Hyänen unerwünscht
Vor 80 Jahren, am 8. Mai 1945, endete der bis heute entsetzlichste Krieg, den Menschen je gegeneinander geführt haben. Angezettelt hatte ihn Deutschland, unter der Terrorherrschaft des Nationalsozialismus; der Größenwahn seiner Führer, die Methoden des Terrors und der Unterdrückung, aber auch das allgemeine Mitläufertum kosteten über 60 Millionen Menschen das Leben.
Die Deutschen trugen schwer an Schuld und Verantwortung für die Katastrophe, doch sie schafften es, mithilfe ihrer damaligen westlichen Verbündeten, auf den Ruinen des staatlichen Terrors eine stabile, von Wohlstand und innerem Frieden getragene Demokratie zu errichten. Seit vielen Jahren sind sie eingebunden in einen europäischen Staatenbund und ein internationales Sicherheitsbündnis.
Die behagliche Bettung hat viele Deutsche aber auch bequem und risikoscheu gemacht: Die Vorteile des demokratischen Rechts- und Sozialstaats werden als selbstverständlich empfunden. Auf Krisen, Herausforderungen und Unsicherheiten reagieren sie nicht mit Ideen und Einsatzbereitschaft, sondern mit Ärger und Angst und der naiven Suche nach simplen Lösungen.
Nun häufen sich diese Krisen: Deutschland muss mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten kämpfen, sich gegen hybride Bedrohungen von außen wappnen und sich gleichzeitig mit einer immer unverhohlener rechtsextremen Agitation im Inneren auseinandersetzen: Die deutsche Demokratie muss sich nicht nur neu bewähren, sie muss auch Zähne zeigen – nach außen und nach innen.
Der erste Schritt dazu wäre die Rückgewinnung dessen, was seit langem mehr und mehr auf der Strecke bleibt: die vernünftige demokratische Debatte, eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen, die sich an Inhalten orientiert und zu kompromissbasierter Meinungsbildung kommt.
Gäbe es den alten Aesop noch, so würde er in diesen Tagen vielleicht folgende Fabel erzählen: Eine Hyäne, ein Huhn und ein Hamster debattierten über die Schönheit. „Das schönste aller Geschöpfe bin ich“, erklärte die Hyäne und warf einen bewundernden Blick in ihren Taschenspiegel. „Das wüsste ich aber“, sagte das Huhn, und auch der Hamster widersprach: „Ich würde eher das Gegenteil sagen.“ „Pah“, sagte die Hyäne und wiederholte: „Das schönste aller Geschöpfe bin ich. Das sagen alle.“ „Wer alle?“ riefen Huhn und Hamster. „Schluss der Debatte“, bellte die Hyäne und biss den beiden die Köpfe ab. Dann beugte sie sich zu den beiden kopflosen Rümpfen hinunter: „Ich bin das schönste aller Geschöpfe. Ihr müsst nur richtig hinschauen!“
Auf diesem Niveau werden heute viele öffentliche Debatten geführt. Bedenklich scheint mir dabei, dass sich anscheinend so viele junge Leute von den Hyänen dieser Welt beeindrucken lassen. Ein wichtiger Bestandteil politischer Bildung ist deshalb die Entwicklung der Fähigkeit, plumpe und uneinlösbare Versprechungen zu durchschauen, Verdrehtes und Verlogenes zu entlarven und selbst eine an Fakten orientierte Debatte zu führen. Für die neue „Verfassungsviertelstunde“ (die dafür allerdings ein wenig ausgedehnt werden müsste) ist das eine ideale Übung. Didaktisches und methodisches Material dazu gibt es reichlich (z.B. unter www.isb.bayern.de). Eine faktenbasierte und mit Überzeugungskraft geführte Debatte, die zu einem vernünftigen Ergebnis führt, mit dem alle an ihr Beteiligten leben können, ist so etwas wie die Schule der Demokratie. Wer ihre Regeln beherrscht und anwendet, hat das Zeug dazu, demokratisches Bewusstsein in den Köpfen anderer zu verankern.
Und deutlich zu machen: Hyänen sind unerwünscht.
Am Anfang ist das Ritual
Verfassungsviertelstunde, die zweite
„Ritual? Er wird doch wohl hoffentlich nicht vorschlagen, dass die Kinder jeden Morgen mit der Hand auf dem Herzen die Fahne grüßen und die Nationalhymne absingen?“
Nein, das schlage ich natürlich nicht vor. Tatsächlich gibt es dieses Ritual an amerikanischen Schulen. Dass es zur Stärkung der amerikanischen Demokratie beitragen würde, scheint mir im Moment zweifelhafter denn je. Abgesehen von den Gefahren (sie zu erörtern würde hier zu weit führen), die eine solche zur bloßen Gewohnheit erstarrte vermeintliche Vaterlandsliebe birgt, glaube ich ihre alsbaldige Wirkung bei den Kindern vorhersagen zu können: Gleichgültigkeit und Langeweile. Rituale ohne Erkenntnisgewinn werden sehr schnell leblos.
Also nichts mit morgendlicher Flaggenparade.
Dennoch – ein Ritual sollte es geben, etwas wie beispielsweise die Regel: Montag ist Verfassungstag.
Jeden Montag (der genauso gut auch ein Dienstag oder Donnerstag sein könnte) gäbe es also etwas, das den gewohnten Alltag unterbricht, setzten sich junge Menschen aller Altersgruppen und aller Schularten (und ihre Lehrer/innen) mit einem wichtigen Textteil dieser Verfassung bzw. der daraus resultierenden Lebenswirklichkeit auseinander.
Warum das wichtig ist?
Weil bei diesem Ritual alle gezwungen sind, sich – fern aller falschen Emphase und chauvinistischer Nationaltümelei – darüber klar zu werden, wie die demokratische Verfassung dieser Bundesrepublik Deutschland, dieses nüchtern (ehemals als Provisorium für den Westteil des geteilten Landes) so genannte „Grundgesetz“ uns allen ermöglicht, bei einem Mindestmaß an Einschränkung unserer Freiheit ein hohes Maß an Wohlstand, Lebenssicherheit und Fürsorge in Anspruch zu nehmen.
Aus dieser Erkenntnis ergibt sich die Notwendigkeit, für diese Verfassung einzustehen und sie vor böswilligen Zerstörungsversuchen zu bewahren.
Zum Verfassungstag würde natürlich auch gehören, dass alle Heranwachsenden nach der Grundschulzeit ein gedrucktes Exemplar des Grundgesetzes in die Hände bekommen, das sie durch ihre Schulzeit begleitet.
Und, nebenbei bemerkt: Es gibt eine ganze Reihe ausführlicher Kommentare zum Grundgesetz, der dickste ist weit über 8000 Seiten stark und kostet ein kleines Vermögen. Warum gibt es keinen speziell für Kinder und Jugendliche? Einen ab zehn vielleicht und einen ab 13? Es ist sicher keine leichte Aufgabe, einen Satz wie z.B. Artikel 2 (Zur Erinnerung: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt) in klarer, verständlicher Sprache für junge Menschen zu kommentieren und mit anschaulichen, knappen Fallbeispielen zu versehen. Aber es wäre der Mühe wert!
Am Anfang aller Beschäftigung mit dem Grundgesetz, sozusagen als zentrale Überschrift über dem Verfassungstag, sollte eine altersgerecht vertiefte Auseinandersetzung mit dem ersten Satz ihres ersten Artikels stehen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieser Satz, so einfach und scheinbar vage er da steht, hat eine enorme Wucht. In der knappen Formulierung ist im Grunde genommen schon die ganze Verfassung enthalten: Unantastbar ist die Würde des Menschen nur im Rechtsstaat. Aus ihrer Unantastbarkeit folgen zwangsläufig die Abschaffung der Todesstrafe, das Recht auf Freizügigkeit und die Gleichberechtigung ebenso wie die Glaubensfreiheit, die Meinungsfreiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz und das Benachteiligungsverbot. Denn ohne all diese Grundsätze, die den Rechtsstaat ausmachen, gäbe es keine Unantastbarkeit der menschlichen Würde. In diesen Zusammenhang gehört auch der zweite Satz des ersten Artikels: Sie (die Würde) zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Damit steht der Mensch als Einzelwesen und als Teil der Gesellschaft im Mittelpunkt des staatlichen Handelns: Der Staat ist für die Menschen da – und nicht umgekehrt.
Über Satz eins und zwei des ersten Artikels des Grundgesetzes lässt sich am Verfassungstag bestens debattieren. Und die Debatte ist eine Form des Meinungsaustauschs, die jedes Mitglied einer demokratischen Gesellschaft unbedingt beherrschen sollte. Sie ist das Lebenselixier der Demokratie.
Darüber demnächst mehr.
Die heiße Viertelstunde
Ich konnte mir ein müdes Lächeln nicht verkneifen, als ich von den Plänen der Bayerischen Staatsregierung las, künftig an allen Schulen eine „Verfassungsviertelstunde“ einzuführen. Das Demokratieverständnis und Wertebewusstsein der Schüler/innen, so hieß es, solle damit vertieft werden.
Das übliche, dachte ich. Da tut sich eine gesellschaftliche Wunde auf – schwupps, wird ein dekoratives Pflästerchen draufgeklebt, schon sieht man nichts mehr – und man kann sagen, man habe doch etwas getan für die Demokratie und gegen Extremismus.
Keinen weiteren Gedanken wert – oder doch? Ließe sich aus dem Viertelstündchen vielleicht doch etwas machen?
Was ist denn die gesellschaftliche Wunde, die da zugepflastert werden soll? Offenbar weiß eine steigende Zahl junger Menschen nichts mehr anzufangen mit Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, fühlt sich überfordert von Globalisierung und Vielfalt möglicher Lebensentwürfe: anything goes, aber wer sagt einem, wo genau es lang geht?
Viele Regeln von Kirche, Schule und Elternhaus früherer Zeiten sind längst fragwürdig geworden oder gelten nicht mehr. Aber selbst, wenn man ihnen nicht nachtrauert – woran soll man sich denn dann orientieren?
Neue Orientierung glauben offenbar viele jungen Menschen in ihren Bubbles in den sozialen Medien zu finden. Dort nimmt ihnen jemand das Denken ab, verspricht ihnen simple Problemlösungen und Lebenswege ohne steinige Engstellen. Diesen Heilsverkündern folgen sie in Gedanken und in Taten, oft ohne eine Vorstellung davon zu haben, wohin das führen kann.
Vielleicht kann die „Verfassungsviertelstunde“ dem eine andere Orientierung entgegensetzen, indem sie zum Symbol und zum Ritual wird: Einmal in der Woche sind Menschenwürde, Rechtsstaat und soziale Gerechtigkeit regelmäßig Thema, zwar nur für ein Viertelstündchen, aber für den Anfang besser als nichts.
Freilich müssten alle Beteiligten sie dafür ernst nehmen und nicht als lästige Pflicht lustlos abarbeiten. Ebenso wenig dürfte es bei der Viertelstunde bleiben. Aus dem Wissen um den Wert einer Verfassung, die jeden Einzelnen vor staatlichen Übergriffen und gesellschaftlicher Benachteiligung schützt, muss die Bereitschaft werden, sich aktiv für deren Erhalt einzusetzen. Sie muss – leider ist das inzwischen so – gegen Extremist/innen und Autokrat/innen verteidigt werden, die geschichtsvergessen faschistischer oder stalinistischer Größe hinterher weinen und unser aller Freiheit gefährden.
Zur Demokratiebildung unserer Kinder und Jugendlichen, von der Grundschule bis zum Gymnasium, möchte diese Kolumne künftig ihren Beitrag leisten. Sie will nicht nur helfen, die „Verfassungsviertelstunde“ lebendig und originell zu gestalten, und einschlägige thematische Hinweise geben, sondern, mehr noch und darüber hinaus, mit ihren inhaltlichen, didaktischen und methodischen Anregungen dabei mitwirken, die Wertschätzung der rechtsstaatlichen Demokratie als übergeordnetes Bildungsziel im Bewusstsein junger Menschen zu verankern: Diese ist es nämlich, die ihnen am ehesten einen Lebensweg ermöglicht, der selbstbestimmt ist und ihren individuellen Fähigkeiten gerecht wird.
Im österreichischen Fernsehen gab es 1968 schon einmal eine politische „Viertelstunde“, kreiert hatte sie der Kabarettist, Chansonnier und Zeitkritiker Georg Kreisler. Er nannte sie „Die heiße Viertelstunde“. Über ihr Schicksal erzählte er: „Sie wurde gesendet im 12. Programm um 3 Uhr nachts und nach bewährtem Muster immer seltener und seltener …“
Möge es der neuen „Viertelstunde“ besser ergehen – „Eselsohr“ will an dieser Stelle dabei mithelfen. Vielleicht kann sie dann eines Tages über Bayern hinaus Schule machen.